Europäische Schuldengrenze vor der Reform

Die Details der Haushaltspolitik stehen selten im Scheinwerferlicht. Seit dem Verfassungsgerichtsurteil zum Nachtragsaushalt der Bundesregierung wird intensiv über die Schuldenbremse und die damit verbundenen Verrenkungen zur Haushaltsaufstellung berichtet. Weniger im Licht der deutschen Öffentlichkeit steht dabei, dass es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa eine Schuldenbremse gibt. Und die ist ebenfalls in der Diskussion.

Im Zusammenhang mit der Einführung des Euro wurden schon 1992 im Maastrichter Vertrag Begrenzungen für die Verschuldung der Mitgliedstaaten vereinbart. Die jährliche Neuverschuldung darf 3% und der Gesamtschuldenstand 60% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nicht überschreiten. Sollten diese Werte überschritten werden, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet entgegenzusteuern. Im Laufe der Jahre wurde dazu ein umfangreiches Regelwerk entwickelt. Das Problem: Regelwerk und Zielmarken sind aus heutiger Sicht weitgehend unrealistisch und werden dementsprechend nicht umgesetzt.

Rechenbeispiel aus der Praxis: Italien

Zur Illustration: Italiens Verschuldungstand liegt bei rund 140% des BIP. Nach dem Regelwerk müsste Italien die über 60% des BIP liegende Verschuldung pro Jahr um 1/20stel zurückführen. Würde Italien dies tatsächlich anstreben, müsste die Regierung im ersten Jahr staatliche Ausgaben im Umfang des gesamten Verteidigungs- und des gesamten Gesundheitshaushaltes streichen. Im darauffolgenden Jahr müssten weitere Kürzungen in der gleichen Größenordnung vorgenommen werden. Es ist verständlich, dass Italien zu derartigen Schritten nicht bereit ist.

Während noch in den 2010er Jahren der Illusion nachgehangen wurde, man müsse ein derartiges Regelwerk aufrechterhalten und die Mitgliedstaaten massiv unter Druck setzen, ist man inzwischen klüger. Gelernt hat man aus der Corona-Pandemie: Um deren wirtschaftliche Schäden abzuwenden, hat man die europäischen Schuldenregel vorübergehend ganz ausgesetzt. Damit hatte man den Spielraum über staatliche Verschuldung den gravierenden wirtschaftlichen Folgen der Pandemie entgegenzuwirken. Aber eine stabile Währungsunion braucht gemeinsame Regeln für die Wirtschafts- und Finanzpolitik und dementsprechend soll ab dem 1.1.2024 wieder ein Regelwerk in Kraft gesetzt werden. Aber weil inzwischen jeder Mitgliedstaat gemerkt hat, dass das Bisherige nicht mehr realitätstauglich ist, hat eine intensive Reformdiskussion eingesetzt, die sich inzwischen auf der Zielgeraden befindet.

Position des EU-Parlaments

Das Europäische Parlament hat sich am Montag auf die Grundzüge neuer Fiskalregeln geeinigt. Die europäischen Finanzminister werden wahrscheinlich ebenfalls noch vor Weihnachten zu einer neuen Position kommen. Kern der Überlegungen ist es, nicht mehr nach einem starren Regelwerk vorzugehen, sondern mit zu hoch verschuldeten Staaten national differenzierte Anpassungspfade zur Schuldenreduktion auszuarbeiten. Dabei sollen nicht nur im engen Sinne finanzpolitische Ziele erreicht werden, sondern es muss gleichzeitig sichergestellt werden, dass die politischen Prioritäten der EU – Klimaschutz, Soziales, Verteidigung und Digitalisierung – ebenfalls realisiert werden können. Als Mindesttilgung müssen die Staaten allerdings ihre Schulden jährlich im Umfang von 1% des BIP zurückführen. Damit ist es gelungen ein anspruchsvolles, aber zugleich realistisches Schuldenreduzierungsprogramm aufzustellen.

Allerdings werden durch diese Schuldenregeln auch die finanzpolitischen Spielräume der hochverschuldeten Staaten deutlich eingeschränkt. Das wird in diesen Staaten erhebliche Probleme aufwerfen. Denn die notwendige klimaneutrale und digitale Transformation wird nur gelingen, wenn auch die öffentlichen Investitionen drastisch gesteigert werden. Dazu brauchen die Staaten Handlungsspielräume. Dies wird nur klappen, wenn die EU einspringt. Das ist auch gerechtfertigt, denn die Schuldenregeln sind vor allem erforderlich, um den gemeinsamen Binnenmarkt und die gemeinsame Währung aufrechtzuerhalten. Deswegen macht es Sinn, auch gemeinschaftliche Verantwortung für die anstehende Transformation zu übernehmen. Die Lösung wäre, im Anschluss an den Wiederaufbaufonds zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie ab 2027 einen umfangreichen Fonds für gemeinsame Klimaschutz-Investitionen einzurichten. Die Diskussionen dazu müssen dringend aufgenommen werden. Es ist richtig, von hochverschuldeten Ländern ein solidarisches Handeln zur Sicherung der wirtschaftlichen Integration und der gemeinsamen Währung einzufordern. Es ist aber auch richtig, umgekehrt europäische Solidarität zu fordern, damit alle Staaten in der Lage sind, den klimaneutralen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu bewerkstelligen.

Bild: Philippe STIRNWEISS © European Union 2023 – Source : EP