Analyse: Protest hilft alleine nicht gegen die AfD

50.000 Menschen demonstrierten am letzten Sonntag in Bremen rund um den Domshof und den Marktplatz gegen Rechts, über 7.000 Personen gestern in Bremerhaven. Und nicht nur hier, sondern bundesweit gingen in den letzten Wochen mehr als 1 Million Menschen auf die Straße, um deutlich zu machen, dass Rechtsextremismus keinen Platz in der Gesellschaft haben darf. Das ist ein beeindruckender Erfolg – die Mehrheit der Bevölkerung hält nichts von rechter Ideologie, gesellschaftlicher Spaltung und Ausgrenzung von vermeintlichen Minderheiten. Reaktionäres Gedankengut wird abgelehnt, ebenso wie die verharmlosend als Remigration bezeichnete massenhafte Deportation von Menschen mit oder ohne deutschen Pass.

Die AfD reagiert dreist auf den gesellschaftlichen Gegenwind. Die Proteste werden als staatlich gelenkt und Beispiel von Intoleranz diffamiert. Gleichzeitig wird unterstellt, die Bilder und Berichte von den Demonstrationen seien manipuliert. Alle die dabei waren, wissen, dass diese Vorwürfe absurd sind. Aber die AfD will nicht uns überzeugen. Sie will ihre Unterstützer*innen bei der Stange halten. Und bei der eigenen Klientel können solche Lügen durchaus verfangen.

Es kommt jetzt darauf an, den Rückenwind von den Demonstrationen zu nutzen und darzulegen, dass die AfD keineswegs eine Alternative in der Politik darstellt. Es wird wahrscheinlich nicht gelingen, alle Wähler*innen von der Perspektivlosigkeit der Politik der AfD zu überzeugen. Es geht um die Wähler*innen, die zu einer Stimmabgabe für die AfD tendieren, weil sie bei den anderen Parteien keine Antworten für ihre Probleme sehen.

Das heißt für uns: Es reicht nicht, nur vor dem rechtsextremen Kern der AfD zu warnen und deutlich zu machen, dass diese Partei zum Teil menschenverachtende Positionen vertritt. Ergänzend müssen wir zusätzlich die Ursachen für die Attraktivität der AfD für viele Wähler*innen angehen. Und da geht es nicht nur um die stark verbesserungsbedürftige Kommunikation der Regierung und des Bundeskanzlers, sondern auch um Unzulänglichkeiten unser eigenen (sozialdemokratischen) Politik. Sicherlich ist es uns gelungen, das Land weitgehend unbeschadet durch die vielen Krisen der jüngsten Vergangenheit zu steuern. Und wir haben auch wichtige Wahlversprechen umgesetzt, wie etwa die Erhöhung des Bürgergeldes und des Mindestlohns. Aber bei einigen Problemen, die viele Menschen bedrücken, sind wir Antworten bisher schuldig geblieben, etwa beim Wohnungsbau, bei der sozialen Abfederung der (finanziellen) Auswirkungen von grüner Transformation und Inflation.

Bei diesen Themen handelt es sich um wichtige soziale Fragen, die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedeutsam sind. Hierüber kann dann auch eine Basis für eine rationalere Debatte über Migration geschaffen werden. Denn Migration ist immer auch mit Verteilungsfragen verbunden. Gelingt es nicht, die sozialen Fragen zufriedenstellend zu beantworten, wird gesellschaftliche Spaltung befördert. „Für die anderen gibt es Geld, für uns nicht“, ist ein Satz, der in erster Linie von sozialer Angst und Enttäuschung getrieben ist. Das dahinterstehende Gefühl lässt sich sehr erfolgreich für rassistische Politik mobilisieren.

In den letzten Monaten sind vielfältige Maßnahmen beschlossen werden, die die Möglichkeiten zur Steuerung von Migration erhöhen werden. Helfen werden diese Maßnahmen kaum. Selbst wenn man der Auffassung wäre, dass das Heil für die oben geschilderten Probleme in der Migrationspolitik zu suchen wäre, müsste man anerkennen, dass die Maßnahmen die Migration kaum begrenzen werden. Rund zwei Drittel der zugewanderten Menschen kamen 2022 aus der Ukraine oder EU-Ländern. Letztere haben das Recht auf personelle Freizügigkeit in der EU. Und will wirklich jemand Geflüchtete aus der Ukraine in den Krieg zurückschicken? Und auch von den anderen Zugewanderten haben viele Aufenthaltsrechte, zumindest bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Dementsprechend wird die Zahl der Menschen, die aufgrund der geänderten Gesetzgebung zur Ausreise aufgefordert werden können, relativ klein sein. Der Kern der Auseinandersetzungen um die Migration muss sich also auf verbesserte Integration richten.

Ein weiteres wichtiges Feld der Auseinandersetzung wird in diesem Jahr die Europa-Politik. Die AfD sagt es ganz offen: Sie will die EU in ihrer derzeitigen Verfassung abschaffen und durch ein nicht näher definiertes Bündnis europäischer Nationalstaaten ersetzen. Das kann man wollen, das haben die Briten mit ihrem Austritt auch gemacht. Aber dann muss man auch die Folgen in Kauf nehmen. Die EU-Mitgliedstaaten profitieren von ihrer Mitgliedschaft in der EU erheblich. Der Brexit hat gezeigt, dass damit ein Austritt zu erheblichen negativen wirtschaftlichen Konsequenzen führen würden. Es dürfte relativ einleuchtend sein, dass es wenig Sinn macht, auf die gegenwärtig schlechte wirtschaftliche Lage noch zusätzliche Probleme draufzupacken.

Aber auch in Bezug auf die EU gilt, dass wir die Welt nicht schönreden dürfen. Es gibt auch einige Fehlentwicklungen in der EU. Manches ist defizitär, etwa unsere Politik gegenüber China, die europäische Agrarpolitik oder auch die Schuldenregeln, die Investitionen massiv ausbremsen. Und manche europäischen Gesetze – bei weitem nicht alle – sind voll von überflüssiger Bürokratie.

Das bedeutet: Europa ist nicht immer die richtige Antwort. Manchmal muss man deutlich sagen, dass wir ein anderes Europa wollen. Aber wir stellen die EU nicht insgesamt in Frage, weil wir wissen, dass damit für Deutschland Frieden und Wohlstand verknüpft ist. Und in Deutschland müssen wir stärker dafür kämpfen, dass dieser Wohlstand gerechter verteilt wird – dann entziehen wir perspektivisch auch den Rechtsextremisten und -populisten den Nährboden für ihre menschenverachtende Politik.