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Gedanken zur Zeitenwende

Seit mehr als 14 Tagen ist der Krieg in Europa zurückgekehrt. Der völkerrechtswidrige Überfall Putins auf die Ukraine bombt Europa in die Anfänge des vorigen Jahrhunderts zurück. Das Verhalten Russlands ist auf das Schärfste zu verurteilen. Militärische Gewalt ist kein legitimes Mittel der Politik. Wir müssen zurückkehren zu dem Grundsatz, dass Grenzen niemals durch Waffengewalt verändert werden dürfen. Das war eine der wichtigsten Erkenntnisse, die 1975 in der Schlussakte von Helsinki festgeschrieben wurden.

Es gibt viele, sich zum Teil widersprechende, Berichte über den Kriegsverlauf. Ich will dazu nicht mit weiteren Spekulationen beitragen, zumal auch ich nur über öffentlich zugängliche Informationen verfüge. Aus meiner Sicht muss jedoch die zentrale Handlungsorientierung sein, alles dafür zu tun, damit die Kampfhandlungen möglichst rasch eingestellt werden und die Gefahr einer weiteren Eskalation, etwa durch Flächenbombardierungen ukrainischer Großstädte oder den Einsatz von taktischen oder strategischen Nuklearwaffen, gebannt wird. Deswegen müssen seitens „des Westens“ alle Maßnahmen unterbleiben, die eine weitere Eskalation zur Folge haben könnten. Die Überlegungen, alte sowjetische MIG 29 Kampfflugzeuge an die Ukraine sind daher entschieden abzulehnen. Sie würden zudem den Kriegseintritt der NATO bedeuten und eben nicht ein Ende der Gewalttaten unterstützen. Ebenso muss bei anderen Waffenlieferungen abgewogen werden, welche eskalierende Wirkungen davon ausgehen können.

Frieden in der Ukraine ist nur durch Verhandlungen zu erreichen. Deswegen ist es gut, dass sich die beiden Außenminister in der Türkei getroffen haben, um auszuloten, ob Verhandlungslösungen gefunden werden können. Rasche Annäherungen sind leider nicht wahrscheinlich. Bei derartigen Treffen werden sensible Fragen angesprochen werden – die Neutralität der Ukraine und dauerhafter Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, zukünftiger Status der Krim sowie der Regionen Luhansk und Donezk. Häufig wird gesagt, dass Zugeständnisse in diesen Fragen eine Belohnung für Putin seien und diesen ermuntern, seine menschenverachtende Politik in anderen Regionen zu wiederholen. Das halte ich für falsch. Denn erstens werden ohne Zugeständnisse die Opferzahl und die Zerstörungen auf jeden Fall drastisch steigen. Und zweitens zeigt sich schon heute, dass der Krieg für Putin und Russland einen hohen Preis haben wird, weil natürlich die Völkergemeinschaft nicht wieder zum business-as-usual übergehen wird, wenn die Waffen endlich schweigen. Der vermeintliche Sieg Putins wird sich schnell als Pyrrhussieg erweisen.

Olaf Scholz hat in seiner Rede vor dem Bundestag am 27.02.2022 von einer Zeitenwende gesprochen. Diese Bezeichnung ist in gewisser Hinsicht treffen. Die bisherige Politik Deutschlands gegenüber Russland, die vor allem auf Kooperation zum beiderseitigen Vorteil gesetzt hat, war nicht in der Lage, den Überfall auf die Ukraine zu verhindern. Auch die Vermittlungsversuche von Deutschland und Frankreich noch im Februar waren nicht von Erfolg gekrönt. Deswegen ist es richtig, nun in möglichst großer Geschlossenheit Putin konsequent entgegenzutreten. Die ergriffenen umfangreichen Wirtschaftssanktionen erweisen sich als richtiges Mittel. Natürlich wird dadurch nicht kurzfristig Putin den Angriff stoppen. Es wird aber deutlich, dass ein derart völkerrechtswidriges Verhalten ernsthafte Konsequenzen für den Aggressor nach sich zieht.

Und diese Konsequenz wird von dauerhafter Natur sein. Die Kooperation mit Russland wird dauerhaft verringern werden, insbesondere um die deutsche und europäische Abhängigkeit von russischen Energielieferungen deutlich zu reduzieren. Und ebenso wird es erforderlich sein, die Abschreckungskomponente europäischer Politik zu stärken. Ohne ein sinnloses und gefährliches Wettrüsten anzuheizen, muss auch der militärische Schutz an der Ostgrenze der EU verstärkt werden.

Die von Olaf verkündete Zeitenwende schoss aber leider in einigen Punkten über das Ziel hinaus. Weswegen die Bundeswehr jetzt mit Geld zugeschüttet werden soll, erschließt sich mir nicht. Quasi um Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, soll ein einmaliger Sonderfonds von 100 Mrd. € etabliert werden. Glaubt man den erschütternden Berichten über den Zustand der Bundeswehr, dann ist offensichtlich, dass die Defizite im Wesentlichen nicht mit Geldmangel zu erklären sind, sondern falschen Prioritätensetzungen und anderen strukturellen Problemen geschuldet sind. In der Öffentlichkeit wurde beklagt, dass nicht einmal die Kleidung unserer Soldaten ausreichend sein soll. Selbst die Unterwäsche sei nicht hinreichend. Weswegen aber 50 Mrd. € jährlich nicht ausreichen, um die rund 180.000 Soldaten angemessen mit Kleidung auszustatten, wurde nicht erklärt. Es mag sein, dass zur Aufarbeitung der Fehler der letzten Jahre auch zusätzliche Mittel erforderlich sein können. Deren Bezifferung auf 100 Mrd. € entbehrt jedoch jeder rationalen Grundlage.

Und auch die propagierte jährliche Erhöhung des Etats um 20 Mrd. € halte ich eher für destruktiv. Um das sogenannte 2%Ziel der NATO zu erreichen, soll der Verteidigungsetat auf über 70 Mrd. € steigen. Europäische Sicherheit – gerade gegenüber Russland – kann nur von den europäischen Staaten gemeinsam organisiert werden. Und auch hier mangelt es bisher keinesfalls an Geld. Die vier größten westeuropäischen Staaten – Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland – geben zusammen knapp 200 Mrd. € für Verteidigung aus. Zum Vergleich dazu: Der Militäretat von Russland liegt bei knapp 62 Mrd. €. Das Problem auf Seiten der EU und ihrer Verbündeten ist aber, dass die Zusammenarbeit untereinander – nicht nur in der EU, sondern offensichtlich auch innerhalb der NATO – vollkommen unterentwickelt ist. Die notwendige bessere europäische Kooperation braucht also nicht mehr Mittel, sondern könnte im Gegenteil zu einer Senkung der Verteidigungsausgaben genutzt werden.

Das Gerede von einer angeblich notwendigen Erhöhung der Militärausgaben kann uns in der Tat in eine neue Zeit führen. Allerdings in eine brandgefährliche Zeit ungezügelter Aufrüstung und Konfrontation. Wünschenswert wäre gewesen, wenn Olaf gleichgewichtig in seiner Rede die Notwendigkeit gegenseitiger Abrüstung und Rüstungskontrolle propagiert hätte. Sicherlich wird es mit Putin kurzfristig nicht möglich sein, hier umfangreiche Abkommen zu vereinbaren. Aber das Angebot gegenseitiger Abrüstung mit dem Anreiz der Wiederbelebung von Kooperation zu verbinden, darf als Politikoption nicht aufgegeben werden. Denn auch in Zukunft wird Entspannungspolitik die notwendige Abschreckung ergänzen müssen.

Und auch eine weitere Erkenntnis muss wieder reaktiviert werden. Sicherheit in Europa können wir nur erreichen, wenn die Sicherheitsinteressen aller Staaten, einschließlich der Ukraine aber eben auch einschließlich Russlands, berücksichtigt werden. Und hier sind die EU und die NATO durchaus gefordert, ihre Politik der letzten 25 Jahre auch einmal zu hinterfragen und zumindest partiell zu korrigieren. Denn dass die Osterweiterung der NATO sowie die völkerrechtswidrigen Kriege einzelner NATO-Staaten gegen dem Irak und gegen Libyen (an denen sich Deutschland zu Recht nicht beteiligt hat) in Russland das Gefühl der Unsicherheit auslösen, ist nachvollziehbar. Diese Fehler des Westens rechtfertigen in keinster Weise den Überfall Putins auf die Ukraine. Aber wenn wir eine stabile europäische Sicherheitsarchitektur gestalten wollen, müssen wir auch vor der eigenen Haustür kehren.

Im historischen Rückblick müssen wir leider feststellen, dass viele Chancen nach dem Ende der Systemkonfrontation zu Beginn der 90er Jahre vertan wurden. Das vom damaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow als Vision propagierte „Gemeinsame Haus Europa“ ist durch Fehler auf beiden Seiten nie gebaut worden. Trotz des grausamen Überfalls auf die Ukraine, sollten wir aber nicht derartige Visionen aufgeben, sondern trotz oder sogar aufgrund der Rückschläge beharrlich daran arbeiten.