Meisterin der unkonkreten Ankündigungen

Kommentar auf die Rede zur Lage der Europäischen Union 2022

Die Rede von Ursula von der Leyen zur Lage der EU findet in bisher nicht gekannten Krisenzeiten statt. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die damit in Verbindung stehenden enormen Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel, die notwendige Neuordnung globaler Lieferketten, die drohende tiefe Rezession der europäischen Wirtschaft und nicht zuletzt die gravierenden sozialen Folgen dieser Krisen für die breite Mehrheit der Bevölkerung stellen nicht nur die EU, sondern auch die Mitgliedstaaten vor gravierende Herausforderungen. Um es gleich vorweg zu sagen: Die Problembeschreibungen der Kommissionspräsidentin waren durchaus akzeptabel. Aber bei den Antworten auf die Herausforderungen kam von der Leyen nicht über unverbindliche Ankündigungen hinaus.

Beispiel 1: Europäische Übergewinnsteuer

Um der Energiepreiskrise zu begegnen und deren gravierenden Folgen für die Wirtschaft und Verbraucher zu mildern, versprach von der Leyen, einen europäischen Gesetzentwurf einzubringen, der eine Abschöpfung der Zufallsgewinne von Energieversorgern wie auch eine Begrenzung des Strompreises beinhalten soll. Das ist zwar wünschenswert aber nichts Neues und weitgehend politischer Konsens. Konkretisierungen, wie das Ganze erfolgen solle, kamen von der Kommissionspräsidentin nicht. Bisherige Leaks über den europäischen Gesetzentwurf zeigen, dass die Aufgabe der Umsetzung den Mitgliedstaaten überlassen bleiben soll, wie diese an die Übergewinne herankommen. Ebenso unklar ist bisher, wie die zusätzlichen Einnahmen solidarisch auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden. Aber immerhin hat von der Leyen schon mal Mehrreinnahmen von 140 Mrd. € in Aussicht gestellt.

Beispiel 2: Reform der Verschuldungsregeln

Die Europäische Zentralbank hat die Zinsen erhöht, um die hohe Inflation in der Euro-Zone zu bekämpfen. Damit verschlechtern sich die Finanzierungsbedingungen für die öffentlichen Schulden. Das dürfte in einigen Staaten durchaus neue finanzielle Probleme zur Folge haben. Gleichzeitig müssen sämtliche Mitgliedstaaten mehr Schulden aufnehmen, um der aktuellen Krise zu begegnen und die Wirtschaft und Bevölkerung zu entlasten. Damit wird endgültig offensichtlich, dass die bisherigen Verschuldungsregeln der EU reformiert werden müssen. Statt einen konkreten Vorschlag zu unterbreiten, was genau angegangen werden soll, kam nur die Ankündigung, im Oktober werde die Kommission dazu etwas vorlegen, ohne anzugeben, mit welchen Vorschlägen die Kommission aufwarten wird. Hintergrund ist, dass die Kommission sich keineswegs einig ist, welche Linie eingeschlagen werden soll. Teils wird für eine relativ strikte Beibehaltung der Verschuldungsregeln plädiert – was fatal wäre, weil es die EU auseinandertreiben würde, und teils plädieren andere für eine grundlegende Reform der Regeln, um auch die Finanzierung notwendiger öffentliche Investitionen in die klimaneutrale und digitale Transformation zu ermöglichen. Was die Kommissionspräsidentin bevorzugt, blieb in ihrer Rede offen.

Beispiel 3: (Vertrags-)Konvent für Europa

Von der Leyen scheint erkannt zu haben, welche Bedeutung die Bewahrung der Demokratie für unsere Gesellschaften hat. Und auch, dass es schwierig ist, zu europäischen Entscheidungen zu kommen, wenn diese im Rat einstimmig getroffen werden müssen. Also konstatiert die Kommissionspräsidentin Handlungsbedarf. Soweit so richtig. Was sie aber konkret vorschlägt, bleibt unklar. Zum einen sprach sie davon, weitere Zukunftskonferenzen einzuberufen, die allerdings lediglich beratenden Charakter haben. Die letzte Zukunftskonferenz hat zwar viele Vorschläge gebracht, bisher gibt es aber noch nicht einmal ein Einvernehmen darüber welche Vorschläge aufgegriffen werden sollen. Zum anderen schlug von der Leyen die Einberufung eines Konventes vor. Offen blieb aber auch hier, welche Themen auf diesem Konvent, der ja konkrete Änderungen der europäischen Verträge ausarbeiten müsste, aufgegriffen werden sollen. Zudem ist bekannt, dass zum jetzigen Zeitpunkt Vertragsänderungen von fast allen Mitgliedstaaten abgelehnt werden. Und auch Vorschläge, etwa zu der Frage, bei welchen Sachverhalten der Rat zukünftig nur noch mit Mehrheit entscheiden soll, und welches Quorum dabei dann gelten soll, waren nicht zu vernehmen.

Vertane Chance

Alles in allem war die Rede der Kommissionspräsidentin zur Lage der EU ist eine vertane Chance. Vorwärtsweisende neue Ideen, wie die im Grundsatz richtig benannten Probleme angegangen werden sollen, waren nicht zu vernehmen. Stattdessen wurden Instrumente wie die Übergewinnsteuer oder die Begrenzung der Energiepreise, die inzwischen allgemein akzeptiert sind, wiederholt, aber ohne zu konkretisieren, wie diese ausgestaltet werden sollen. Die Kommission verweigert sich, ihre in den europäischen Verträgen vorgesehene initiative Rolle wahrzunehmen. Bleibt zu hoffen, dass die Mitgliedstaaten derartige Initiativen ergreifen.


Bild: European Union 2022 – Source EP